„The Overton window, in political theory, describes a „window“ in the range of public reactions to ideas in public discourse, in a spectrum of all possible options on a particular issue. It is named after its originator, Joseph P. Overton, former vice president of the Mackinac Center for Public Policy.“ — Quelle: Wikipedia

Stark vereinfacht funktioniert das Overton window so: Wenn ich irgendwelche Maßnahmen politisch durchsetzen möchte, dann fordere ich zuerst was vollkommen absurdes, wie z.B. das Abschießen von vollbesetzten Passagiermaschinen, damit eine andere vollkommen absurde Forderung, wie z.B. die Vorratsdatenspeicherung oder Rasterfahndung, nicht mehr ganz so absurd wirken und ich dann eine von den dann weniger absurd wirkenden Forderungen umsetzen kann.

Was hat das Overton window mit der aktuellen Diskussion um die Klarnamenspflicht bei Google+ zu tun? Die Pflicht bei Google+ seinen Klarnamen führen zu müssen verschiebt andere Ideen bezüglich der Privatsphäre im Internet in die von manchen weniger absurd empfundene Richtung.

Pseudonyme in Social Networks sind sinnvoll

Interessant ist, dass in Teilen der Piratenpartei im letzten Jahr, rund um die Einführung von LiquidFeedback, eine ganz ähnliche Diskussion geführt wurde. Es ging um die Frage ob alle Nutzer von LiquidFeedback mit ihrem Klarnamen angemeldet sein müssen, oder ob Pseudonyme erlaubt werden sollen. Wir entschieden uns dann dafür, dass LiquidFeedback pseudonym genutzt werden kann, obwohl man es auch nur mit Klarnamen nutzen könnte. Hauptargument war, dass die politische Meinung ein besonders schützenswertes Datum ist und es bei LiquidFeedback um die Abstimmung dieser Meinungen geht. LiquidFeedback ist transparent, da wir keinen Wahlcomputer haben wollen und deswegen sind alle Abstimmungsergebnisse auch sichtbar. Die Pseudonyme sollen es Nutzern ermöglichen, ohne Zwang auch über delikate Themen abstimmen zu können, ohne im Nachgang Repressalien fürchten zu müssen. So weit die Theorie und eine Umfrage von Sebastian Jabbusch ergab, dass Nutzer des durch die Piratenpartei eingesetzten LiquidFeedback-Systems bei einer Abstimmung in LiquidFeedback weniger Gruppenzwang verspüren, als bei einer Abstimmung auf einem Parteitag.

Das Beispiel zeigt, dass es gute Gründe gibt, eine pseudonyme Nutzung eines Systems zu ermöglichen, insbesondere wenn es um die öffentliche Verknüpfung einer Person mit sensiblen Daten geht. Damit ein in LiquidFeedback gewähltes Pseudonym aber so funktioniert muss man einiges beachten, was einem bei der Anmeldung im System der Piratenpartei auch erklärt wird:

Umgang mit Pseudonymen

Wenn du nicht „einfach mal so eben im Internet gefunden“ werden möchtest:

Verwende als Benutzernamen bei der Registrierung ein Pseudonym, das du sonst für keinen anderen Zweck verwendest und stelle nirgends im Internet eine Verknüpfung zwischen dem gewählten Pseudonym und anderen von dir verwendeten Pseudonymen oder deinem Realnamen her.

Wenn du möchtest, dass du so anonym wie möglich bleibst:

  • Überprüfe, dass der von dir soeben gewählte Benutzername und auch die – nur für Administratoren einsehbaren – Daten Anmeldename und E-Mail-Adresse keine Rückschlüsse auf deine Identität zulassen. Gegebenenfalls breche die Registrierung ab und beginne von vorne mit anderem Anmelde- und Benutzernamen sowie E-Mail-Adresse. Beachte dies auch, wenn du eines der Daten später änderst. Beachte ebenfalls, dass im System auch alte Benutzernamen mit den Zeitraum der Verwendung durch dich für andere Benutzer abrufbar sind.
  • Mache in deinem Benutzerprofil keine Angaben, die Rückschlüsse auf deine Identität zulassen.
  • Beachte, dass alle Anträge und Anregungen, die du in das System einstellst, keine Namen oder andere Angaben enthalten, anhand derer du zu identifizieren sein könntest.
  • Beachte, dass auch die Inhalte deiner Texte sowie dein Unterstützungs-, Bewertungs-, Abstimm- und Delegationsverhalten möglicherweise Rückschlüsse auf deine Identität zulassen können.
  • Beachte bei der Wahl von Namen, E-Mail-Adressen und allen anderen Angaben auch immer, dass du möglicherweise in anderen System auch Angaben gemacht haben könntest, unter deren Zuhilfename ein Rückschluss auf deine Identität möglich sein könnte.
  • Beachte bei Anfragen an die Administratoren oder den Support ebenfalls keine Angaben zu machen, die Rückschlüsse auf deine Identität zulassen.

Respektiere Pseudonyme anderer Teilnehmer

Respektiere, dass sich andere Teilnehmer unter einem Pseudonym am System angemeldet haben und eine Zuordnung zu ihrer Identität nicht wünschen. Verwende daher nur die im System angegeben Pseudonyme und keine Klarnamen oder andere Pseudonyme, die dir möglicherweise bekannt sind. — Quelle: LiquidFeedback-System der Piratenpartei, Umgang mit Pseudonymen

Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass die strikt pseudonyme Nutzung des LiquidFeedback-Systems der Piratenpartei einen Nutzer im System so gut wie anonym macht. Vor allem erschwert es den Austausch mit anderen Nutzern des Systems.

Eigentlich ist alles klar

Eigentlich ist alles klar: Personen die einen Dienst pseudonym nutzen wollen sollen dies tun können, auch wenn sie dafür in Kauf nehmen müssen, dass der Dienst möglicherweise nicht so funktioniert, wie sich die Macher das wünschen. Auf der anderen Seite ist es genau so gutes Recht von Google die policy, dass Pseudonyme nicht erlaubt sind durchzusetzen. Google+ konkurriert mit anderen Social Networks und wenn sich herausstellen sollte, dass eines, dass die pseudonyme Nutzung erlaubt besser läuft, dann überlegt sich Google möglicherweise auch noch mal die eigene Namenspolicy.

Eine geschickte Inszenierung

Was bei der Diskussion um die Pseudonyme bei Google+ übersehen wird ist, dass es sich um eine geschickte Inszenierung handelt. Zwar muss sich Google nicht unbedingt darum sorgen machen, dass über den Start von Google+ nicht berichtet wird, aber man kann natürlich dafür sorgen, dass die Berichterstattung erst mal nicht abebbt.
Man startet also kurz vor dem Sommerloch ein Social Network, wartet ein Bisschen und macht dann klar, dass Pseudonyme nicht erlaubt sein werden. In Deutschland! Die sich abzeichnende Narrative ist klar: Google, diejenigen welchen, die im letzten Jahr all unsere Fassaden und Gärten ins Internet gebracht haben, die wollen jetzt, dass ich mit meinem Klarnamen durchs Internet surfe!

Die „Bild“ kann den digitalen Weltuntergang verkünden und Ilse Aigner sagt vor laufenden Kammeras, dass sie nicht beabsichtigt, zu Google+ eingeladen zu werden. Die Netzgemeinte™ diskutiert auf- und angeregt über den Sinn und Zweck von Pseudonymität und Anonymität im Internet und am Ende schafft es Google noch mal mit der Schlagzeile „Google+ erlaubt jetzt Pseudonyme“ in die Medien. Google kann sich verständnisvoll zeigen und der Otto-Normal-Nutzer nimmt das ansonsten als Datenkrake dargestellte Unternehmen einsichtig wahr.

Lerneffekt erwünscht

Nebenbei gibt es hoffentlich ein Bisschen Lernkurve für den ein oder anderen Internetbewohner. Die Diskussionen der letzen Monate, Spackeria, LiquidFeedback, Bürgerbeteiligung in der Enquete, zeigen, dass eine zentrale Frage im netzpolitischen Diskurs noch immer nicht beantwortet ist: Wie weit muss man seine Pseudonymität im Internet aufgeben, um partizipativ Verantwortung übernehmen zu können? Der Umgang mit Identität in verschiedenen Kontexten des Internets ist noch immer nicht ausgelotet. Vielleicht führt Googles Öffnung des Overton windows an dieser Stelle zu einem gemeinsamen Erkenntnisgewinn fernab der Skandalisierung, es ist zu wünschen.