tl;dr: Die Piratenpartei Deutschland ist eine sozialliberale Partei. Sozial im Sinne von Gemeinschaft, liberal im Sinne von Bürger- und Freiheitsrechten. Die Piratenpartei Deutschland wird benötigt, um innerhalb des politischen Diskurses neue gesellschaftliche Entwicklungen abzubilden. Wir sollten uns bemühen, 2013 als stärkste Oppositionsfraktion in den Deutschen Bundestag einzuziehen.
Als ich 2009 aus der Volksrepublik China kam, sah ich mich in Deutschland mit der Vorratsdatenspeicherung und Netzsperren konfrontiert. Ich fühlte mich sofort an die Diktatur erinnert, aus der ich grade kam. Im Studentenwohnheim in Hangzhou kämpfte ich jeden Tag damit, dass manche Internetseiten nicht erreichbar, manche Suchbegriffe nicht suchbar waren. Das Gefühl der Ohnmacht, ähnliche potentielle Unterdrückungsmechanismen wie in der VR China bald in Deutschland erleben zu müssen war entsprechend groß. Ich trat im Zuge der Europawahl der Piratenpartei bei. Ja, beim schwedischen Ergebnis von sieben und dem deutschen von einem Prozent dachte ich mir, da geht was. Und ja, es ging was.
Heute, da wir Piraten irgendwo zwischen 4%-6% bundesweit stehen hat der eine oder andere ja möglicherweise vergessen, warum und wofür wir den Scheiß machen. Der Scheiß, das ist, Politik zu machen und Gesellschaft zu verändern. Die politischen Realitäten der gesellschaftlichen Realität in diesem Land anzupassen. Das ist eine Gesellschaft, die nicht mehr an Vollbeschäftigung glaubt, weil es keine Vollbeschäftigung mehr gibt, eine Gesellschaft die nicht mehr an Chancengleichheit glaubt, weil es keine Chancengleichheit gibt, eine Gesellschaft die mit Wachstum allerhöchstens noch eine Veränderung der Körpergröße assoziiert.
Die Piratenpartei startete 2006 mit den sogenannten Netzthemen, aber wir sind keine Netzpartei. Wir machen keine Politik für das Internet, wir machen Politik für eine durch das Internet und moderne Informationstechnologien veränderte Gesellschaft. Wir sind eine im besten Sinne sozialliberale Partei. Eine Partei, die ein positives Menschenbild vertritt: Nimm einem Menschen die Existenzangst und gib ihm die Möglichkeit sich frei zu entfalten, dann wird er sich zum Positiven entwickeln und etwas gesamtgesellschaftlich Sinnvolles tun.
Wir haben genug Themen, die sich umzusetzen lohnten: Wir fordern ein Bedingungsloses Grundeinkommen, was angesichts der unmenschlichen Arbeitslosengeld-II-Praxis immer notwendiger ist. Statt einen Zustand als Arbeitslosigkeit zu definieren und diesen dann drakonisch zu verwalten sollte eine moderne Gesellschaft im 21. Jahrhundert mehr können: Sie sollte ihre Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzen sich frei zu entfalten. Dies ginge mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen am einfachsten. Und wer mir mit den Kosten kommt: Teurer als eine Bankenrettung wird es nicht sein.
Wir fordern den freien Zugang zu Bildung und Wissen. Wie können wir als Gesellschaft eigentlich damit leben, dass unser Bildungssystem jährlich tausende von Menschen ohne Schulabschluss in die Welt entlässt. Wie können wir eigentlich damit leben, dass der Zugang zu Studiengängen mit absurden Zugangsbeschränkungen wie einem NC verbunden sind. Wer von uns ist überhaupt noch der Meinung, dass man in Zeiten des Internets Vorlesungssäle und physische Anwesenheit in einem solchen benötigt, um einen qualifizierten Studienabschluss zu erwerben?
Wir fordern eine Entkriminalisierung von Drogen. Schaut nach Portugal, da funktionierts. Seit zehn Jahren. Wir fordern den Fahrscheinlosen ÖPNV, schaut nach Hasselt, Belgien, da funktionierts. Seit 16 Jahren. Wir fordern mehr Mitbestimmung und direkte Demokratie, schaut in die Schweiz, da funktionierts. Als Gründungsprinzip.
Wir fordern darüber hinaus so viele vernünftige Dinge, dass es mir fast egal sein könnte, ob wir mit 3% oder 50% in den Umfragen stehen. Das Bedingungslose Grundeinkommen, der fahrscheinlose ÖPNV, Trennung von Staat und Kirche und unser restliches Programm sind für mich unabhängig von Umfragewerten erstrebenswerte Ziele. Das sollte dann auch die Frage sein: Wie können wir unser Handeln als Parteimitglieder so ausrichten, dass diese Ziele Realität werden? Ich habe keine Lust mehr auf die Verhinderung von Zukunft durch Engstirnigkeit. Grade wir müssen doch Utopien formulieren, einen Wunsch darüber äußern, wie die Zukunft sein soll und darauf hinarbeiten, dass es passiert. Wer wächst denn heutzutage noch in dem Glauben auf, es einmal besser zu haben als z.B. seine Eltern. Es geht um panische Besitzstandswahrung statt der Frage, was dieser Kasten Gesellschaft im 21. Jahrhundert kann oder können sollte. Das müssen wir ändern. Früher setzte sich die Menschheit Ziele wie die Landung eines Menschen auf dem Mond, heute scheitern wir am Bau von Flughäfen. Wir brauchen eine Utopie davon, wie wir in Zukunft leben wollen.
In der allgemeinen parlamentarischen Arbeit wirken Piraten. Wer das leugnet ist blind oder hat große Freude daran, das politische Engagement motivierter Jungpolitiker zu neutralisieren. Wenn eine Koalition aus SPD/CDU in Berlin unsere Anträge zu mehr Mitbestimmung, einem Wahlrecht ab Geburt oder einer transparenten und nachvollziehbaren Arbeit des Senats ablehnt, dann müssen sich nicht wir, sondern dann muss sich die Koalition dafür rechtfertigen.
Mit Peer Steinbrück haben wir im Moment einen Kanzlerkandidaten, der es vollkommen okay findet, Geld für Vorträge von einer Kanzlei zu nehmen, der er als Finanzminister Aufträge erteilt hat. Nochmal: Peer Steinbrück hat als Minister einer Kanzlei Aufträge = Geld verschafft, diese Kanzlei hat ihm Vorträge = Geld verschafft. Da fragt sich noch einer, warum wir mehr Transparenz in Politik und Verwaltung brauchen? Achja, fordert die Piratenpartei. Peer Steinbrück sagt zu Transparenz übrigens, dass es diese nur in Diktaturen gäbe. Soweit also zu seinem Politikverständnis.
Mit Angela Merkel haben wir eine Bundeskanzlerin, die es schafft 40 Minuten lang zu reden ohne etwas zu sagen. Eine dieser Personen, Peer Steinbrück oder Angela Merkel, werden nächste Bundeskanzlerin. Früher hätte ich „Prost Mahlzeit“ gesagt, heute sage ich: Die Piraten werden mehr denn je gebraucht.
Als in vier Landesparlamenten vertretene Partei wurden wir im vergangenen Jahr oft wie eine Partei mit Bundestagsfraktion behandelt. Das kann man finden wie man will, aber man kann darauf reagieren. Die 5%+X sind mit unseren Themen und angesichts des Personals das die Etablierten auffahren schaffbar. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, wir sollten uns das Ziel setzen stärkste Oppositionspartei zu werden. Von nichts kommt ja bekanntlich nichts.
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