„Gerechtigkeit ist ein Maßstab zur Beurteilung von Personen und Institutionen, von Staat und Gesellschaft. Sie gilt als Kardinaltugend menschlichen Handelns und erfüllt eine unbedingte Legitimationsfunktion in Bezug auf Herrschaft und Güterverteilung. Sie fordert bei konkurrierenden Ansprüchen wie bei der Rivalität um knappe Ressourcen die angemessene Berücksichtigung aller Interessen mit dem Ziel, einen Ausgleich zu schaffen und ‚jedem das Seine‘ zu geben.“ – Kleines Lexikon der Politik, vierte Auflage 2007, C.H. Beck
Der übergeordnete Wahlkampfslogan meiner Partei zur Bundestagswahl ist „Zeit für mehr Gerechtigkeit“. Im über 100 Seiten umfassenden Wahlprogramm geht es vor allem darum, wie Deutschland nach den Vorstellungen der SPD gerechter werden soll.
Im neuen Wahlkampfspot sagt Martin Schulz:
„Manche behaupten ja, Gerechtigkeit sei heute kein Thema mehr. Wenn dem so wäre, warum ist dann eines der ersten Dinge, die wir unseren Kindern beibringen, gerecht zu teilen? Und, dass die Starken den Schwachen helfen sollen? Warum lehren wir sie: Keiner ist gleicher als der andere? Warum sagen wir ihnen: Alles ist möglich – egal, ob Mädchen oder Junge? Egal, wo du herkommst. Warum bestärken wir unsere Kinder in dem Glauben, dass sie diese Welt besser machen können? Gerechtigkeit wird immer ein Thema sein. Denn nur eine gerechte Gesellschaft hat eine Zukunft.“
Ich frage mich: Über welche Gerechtigkeit wird hier geredet?
Ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit: Der Spiegel deckt auf, dass sich deutsche Autokonzerne seit den 90er Jahren in geheimen Arbeitsgruppen trafen, um illegale Preisabsprachen zu treffen und den Wettbewerb gezielt außer Kraft zu setzen. Dieses illegale Kartell legte den Grundstein für die jetzigen Dieselskandale, denn man sprach sich auch über Dieselmotoren und deren Filter ab. Die Verbraucherinnen und Verbraucher, also wir alle, wurden doppelte geschädigt: Teurere Autos, die nicht die versprochene Leistung erbrachten und darüber hinaus Umwelt und Menschen durch Stickoxide und Feinstaub schädigen.
Welche Konsequenz hatte das für die Automobilkonzerne, deren CEOs und leitende Angestellte? Vorerst Keine. Es gab einen Dieselgipfel, ein ominöses Softwareupdate soll einige Fahrzeuge „sauberer“ machen (spoiler: es tut es nicht) und das wars dann auch an unmittelbaren Reaktionen. Politische Forderungen, dass der Skandal Folgen für die Art und Weise haben müsse, wie deutsche Autokonzerne ihre Geschäfte machen, gab es meines Wissens keine.
Zum Vergleich: Eine Person, die aus welchen Gründen auch immer darauf angewiesen ist, Arbeitslosengeld zwei (Vulgo Hartz IV, also die 409,- Euro monatlich, die zu „spätrömischer Dekadenz“ verleiten) beantragen zu müssen, muss sich nackt machen. Sämtliche Lebens- und Vermögensverhältnisse müssen offen gelegt werden. Hat die Person einen Partner, muss sich diese Person ebenfalls nackt machen, weil, so die Denke, die Person könnte ja Geld haben, um die andere Person durchzufüttern. Dahinter steckt das nicht besonders positive Menschenbild, dass alle Menschen faul sind, Arbeitslose selbst schuld an ihrer Arbeitslosigkeit und Menschen nur mit Sanktionen dazu zu bringen sind, wieder arbeiten zu gehen (Wo sie dann dank Mindestlohn von 8,50 Euro gar nicht wissen wohin mit ihren 1.470,- Euro brutto im Monat). Die Offenlegung sämtlicher Vermögensverhältnisse wird auch deswegen gefordert, um einem „Hartz IV Betrug“ vorzubeugen, denn, so die andere unschöne Denke, wenn man es nicht möglichst schwierig macht Sozialleistungen zu beantragen würden ja möglichst viele kommen, die diese dann betrügerisch beantragen (Jeder kann jetzt selbst ausrechnen, wie viele Leute unberechtigt ALG II beziehen müssen, um einen Schaden anzurichten wie zum Beispiel der Steuerhinterzieher Uli Hoeneß).
Was hat das eine jetzt mit dem anderen zu tun? Es zeigt, wie Staat und Politik einmal mit Konzernen und einmal mit Menschen umgehen. Es gibt das Wort „Hartz IV Betrüger“, das Wort „Konzernbetrüger“ ist zwar möglich, aber nicht wirklich gebräuchlich. Einem bedürftigen Menschen wird pauschal und von vornherein Betrugsabsicht unterstellt, ein Autokonzern und seine Verantwortlichen haben selbst dann nichts zu fürchten, wenn sie mehr oder weniger öffentlich des Betruges überführt worden sind. Jeder deutsche Automobilkonzern würde „Planwirtschaft“ und „Sozialismus“ schreien, wenn die Autos die er bauen möchte vorher so durchleuchtet würden, wie es ein in Not geratener Mensch erdulden muss, wenn er ALG II beantragt. Doch Autokonzerne haben, im Gegensatz zu ALG II-Bezieherinnen und Beziehern den Vorteil, dass sie an Parteien Großbeträge spenden können, auch die SPD bekommt 100.000 Euro zum Beispiel von Daimler, die man meiner Meinung nach mal zurück geben könnte. Dieses Geld, da sollte man sich nicht täuschen, ist übrigens auch „unser Geld“, genau wie Steuerbeiträge. Denn Daimler und andere Autokonzerne ernähren sich nicht von Luft und Liebe, sondern von Geld, das von Kundinnen und Kunden gezahlt wird. Doch dass sich Menschen einerseits stundenlang darüber aufregen können, was mit ihren Steuerbeiträgen getan wird, es dann aber anscheinend scheißegal ist, was privatwirtschaftlich organisierte Entitäten mit ihrem Geld machen, ist ein anderes Thema.
Was sagt uns das jetzt über Gerechtigkeit? Dass Großkonzerne die Betrügen anders behandelt werden als Menschen, die nur unter dem Verdacht stehen, vielleicht betrügen zu wollen (btw. echte Soziopathen werden Investmentbanker, 20 Millionen Euro im Jahr sind deutlich interessanter als 409,- Euro im Monat). Die Frage, die sich jede halbwegs blickige Person angesichts solcher Zustände stellt ist: Wie ernst meinen „die da oben“ es denn mit ihrer Gerechtigkeit, wenn die noch nicht mal nach so nem krassen Skandal einschneidende Maßnahmen fordern, ich aber für einmal falsch Parken schon nen Knöllchen bekomme. Das ganze könnte man jetzt nochmal für die sogenannte Bankenrettung durchspielen, die in den Köpfen der Menschen sehrwohl noch eine Rolle spielt.
Wenn wir als SPD also glaubwürdig mehr Gerechtigkeit fordern wollen, dann müssen wir auch an die großen, unangenehmen Klopper ran und uns auch mal mit der deutschen Autoindustrie anlegen. Das bedeutet konkret ordnungspolitisch reinzugrätschen und darauf hinzuweisen, dass die Freiheit unternehmerischen Handelns dort ihre Grenzen finden muss, wo der gesamten Gesellschaft (bewusst) Schaden zugefügt wird. Der finanzielle und gesundheitliche Schaden ist da, ganz zu schweigen vom Schaden für die Marke „Made in Germany“. Konsequenzen gibt es keine. Abgesehen davon muss die SPD ihr Verhältnis zur Agenda 2010 und dem menschenunwürdigen ALG-II-System klar kriegen, aber auch das ist ein anderes Thema.
Und man muss das Rad nicht neu erfinden. Im von mir heiß geliebten Godesberger Programm stand schon alles drin:
„Mit ihrer durch Kartelle und Verbände noch gesteigerten Macht gewinnen die führenden Männer der Großwirtschaft einen Einfluß auf Staat und Politik, der mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Sie usurpieren Staatsgewalt. Wirtschaftliche Macht wird zu politischer Macht.
Diese Entwicklung ist eine Herausforderung an alle, für die Freiheit und Menschenwürde, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft sind.
Die Bändigung der Macht der Großwirtschaft ist darum zentrale Aufgabe einer freiheitlichen Wirtschaftspolitik. Staat und Gesellschaft dürfen nicht zur Beute mächtiger Interessengruppen werden.“
Die SPD wird nicht an ihrem Mikromanagement, sondern an ihren großen Linien gemessen werden und wie glaubwürdig sie im hier und jetzt das umsetzt, was sie fordert.
tl;dr: Wenn es um mehr Gerechtigkeit geht liebe SPD, walk the talk.